Nachklang zum Referat vom 16. September 2021 «Jugendliche beim Lernen am Gymnasium begleiten»
Ein Gespräch zwischen Yvonne Studer (YS), Sonderpädagogin/Germanistin/Lehrerin/Lerncoach und Mutter und Evelyn Goetschel (EG), Mutter und Musiktherapeutin/Pfarrerin/Psychiatrieseelsorgerin
EG: Vielen Dank, liebe Yvonne, für Deine Gastfreundschaft! Wir sitzen zusammen, um nochmals über die Frage nachzudenken, wie wir unsere jugendlichen Kinder am besten beim Lernen am Gymnasium begleiten können. Du hast ja im Referat am 16. September und in der Broschüre für Eltern eine Menge konkreter Tipps und Tricks präsentiert. In meinen Augen ist es aber wohl eher die Rolle der Eltern, die das Lernen der Jugendlichen begünstigt. Wie siehst Du das?
YS: Ich denke, das ist auf das Lernen bezogen ein wichtiger Punkt: Beim Lernen zeigt sich deutlich, wie sich die Erziehungshaltung der Eltern auswirkt. Eltern haben ja immer eine Haltung, die sie zu etwas einnehmen, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Und oft haben Mutter und Vater (oder auch «Miterziehende» wie Grosseltern, Geschwister und andere) sogar unterschiedliche Haltungen. Kinder erleben ihre Eltern in unzähligen Situationen. Sie kriegen mit, wie man miteinander umgeht, wie man sich erholt, wie man Schwierigkeiten bewältigt … Es ist ein offenes Geheimnis, dass man sich als Mutter und Vater mit der jeweiligen Erziehungshaltung mehr oder weniger lernfördernd verhalten kann. Das heisst also: Das Lernen ist nicht abzukoppeln vom Zusammenleben mit den Kindern, vom Eltern-Sein an sich und vom «Erziehen».
EG: Ich unterstütze als Mutter oder Vater also mein Kind nicht erst seit Beginn der Probezeit. Eigentlich unterstütze ich mein Kind beim Lernen seit seinem ersten Lebens-Tag.
YS: Genau. Eltern leben ihren Kindern vor, wie «Leben» und damit auch «Lernen» geht. Kurz: Eltern sind Vorbilder. Diese Erkenntnis sollte Eltern aber nicht unter Druck setzen. Wenn ich über das Lernen-Begleiten referiere oder schreibe, ist es mein Ziel, Eltern zu stärken. Ich finde, es muss unbedingt bewusst gemacht werden, dass Eltern ihre Aufgabe grundsätzlich gut machen möchten und dass ihnen das oft auch gelingt: Das «Nestbauen», also Sicherheit geben, ist ja die Basis von allem. Und dann gibt es einfach Lebenssituationen, die dafür sorgen, dass man dieses oder jenes weniger oder mehr macht. Weil man selber gerade an seine Grenzen kommt mit allem, was das Leben von einem fordert. Das sollen die Kinder ja auch von uns lernen: Dass nämlich nicht immer alles ideal ist und dass man auch damit umgehen kann.
Bezogen auf die Probezeit heisst das auch: Es gibt ja tausend Gründe, warum ein Kind die Probezeit besteht oder nicht. Wir Eltern spielen dabei eine wichtige – aber nicht die einzige Rolle. Mir ist es wichtig, dass sich die Aufgaben der Schule und die Aufgaben der Eltern verschränken. Das heisst: Die Eltern bereiten ein Stück weit den Boden so vor, dass ihre Kinder in der Schule gut arbeiten können. Und dann ist es tatsächlich so, dass diese Vorbereitung mehr oder weniger lerngünstig erfolgen kann: Wenn Eltern mit ihren Kindern mal in den Zoo, mal in eine Ausstellung gehen, ihnen das Kunsthaus zeigen, vorleben, dass es ihnen wichtig ist zu lesen und zu schreiben, das Handy nutzen, um einen Begriff zu googeln, so überträgt sich dieser Umgang mit Wissen und Lernen. Diese grundsätzliche Lebens- und Lernumgebung prägt ein Kind. Und es überrascht nicht, dass Kinder aus solchen Elternhäusern eher die guten Noten kriegen. Nicht aus einem Strebertum heraus, sondern aus einer Lebenshaltung.
Daraus abzuleiten, dass das Gymi reserviert ist für Kinder aus Akademikerfamilien, ist sicher nicht der richtige Schluss. Es ist ja kein Zufall, dass es zum gymnasialen Lehrplan gehört, auch überfachlich zu lehren, wie man lernt. Kinder sollen damit, in Bezug auf das Lernen, auch ein Stück weit unabhängig von ihren Eltern werden.
EG: Wie sieht für dich diese Verschränkung von Aufgaben der Eltern und der Schule im Idealfall aus?
YS: Ideal wäre für mich, wenn Eltern ausschliesslich «Nestbau» betreiben könnten und sich gar nicht um das Lernen der Kinder kümmern müssten. Realistisch ist das meiner Erfahrung nach aber leider nicht. Vor allem, wenn Kinder aus der Primarschule ins Langzeitgymnasium gehen, kommt da so viel Neues auf sie zu, dass manche schlicht überfordert sind. Nur schon der Schritt in die Oberstufe ist ein grosser. Sich dann noch im Fachlehrersystem zurechtzufinden und das Lernen selber zu planen, braucht für viele Kinder viel Aufmerksamkeit und dauert manchmal einige Wochen. Und wenn in dieser Zeit des Sich-Eingewöhnens das Lernen keinen Platz hat und die ersten schlechten Noten eintreffen, kommt bald auch der psychische Faktor dazu: Wenn Kinder sich dann nichts mehr zutrauen, wird es schwierig. Schön wäre es, wenn Eltern ihrem Kind in einer solchen Situation vermitteln könnten, dass es nicht alleine ist, indem sie zum Beispiel sagen: «Wir stemmen das miteinander» oder «Wo benötigst du meine Hilfe?»
Wenn der Rank gefunden wird, ist ja alles gut. Es gibt aber auch Kinder, die nicht am richtigen Platz sind. Es kommt im Leben vor, dass etwas nicht gelingt. Deswegen ist das Kind kein «Loser»! Ein Kind, das die Probezeit nicht besteht, hat nicht versagt.
EG: Es geht ja auch um die Frage: «Ist das Kind am richtigen Ort?»
YS: Ja. Das zu klären gehört in dieser Zeit zur Aufgabe der Schule. Für Eltern stellt sich die Frage «Wo ist der gute Platz für mein Kind?» ja schon länger.
Ich war vor Jahren als Mutter an einem Orientierungsabend für Eltern, wo es darum ging, die Sekundarschule vorzustellen. Der Schulleiter einer Sek-Einheit hat den Eltern ausdrücklich empfohlen, den Weg über die Sek und nicht das Langzeitgymi zu machen. Dies mit der Begründung, die Kinder könnten dann länger Kind sein. Ich ging damals einigermassen irritiert nach Hause. Und zwar weil ich Kinder kenne, die buchstäblich nach Wissen lechzen, Dinge genauer wissen wollen, denken wollen und aufblühen, wenn sie eine Schule besuchen, in der genau das gelebt wird. Es gibt Kinder, die es nutzen, dass plötzlich so viele Lehrpersonen da sind, die auf ihre Fragen eingehen, die es unterstützen, wenn aus Interesse und Wissbegierde Schüler*innen nach der Stunde noch weiterdiskutieren und weiterfragen. Und dann … Ob es wohl stimmt, dass Kinder an der Sek länger «Kinder» sein können? An der Sek müssen sie ja auch ziemlich «a d Seck»! Es wäre schön, wenn die Kinder an dem Ort zur Schule gehen könnten, wo es passt.
Es kommt manchmal vor, dass ein Kind, von dem alle dachten, es sei am Gymi gut platziert, dann doch in die Sek wechselt oder wechseln muss. Und da kommt manchmal die Frage auf: «Hätten wir als Eltern mehr machen müssen?»
EG: Und? Was sagst du denen?
YS: Dass Eltern so viel machen, wie aus ihrer aktuellen Situation heraus möglich ist – und dass es letztlich nicht nur einen Grund gibt, warum eine Probezeit nicht bestanden wird. Wichtig scheint mir, dass das Kind erlebt, dass die Eltern hinter ihm stehen – egal, wo es zur Schule geht.
«Mehr machen» im Sinne von «mehr lernen» macht Sinn, wenn man noch eine Chance hat, das gewünschte Ziel zu erreichen. Wenn sich aber klar abzeichnet, dass die Promotionsbedingungen nicht erfüllt werden können, ist es sicher hilfreicher, wenn Eltern ihrem Kind vermitteln, dass man gemeinsam einen anderen Weg geht.
EG: Mit dem Kind, das sich rasant verändert, verändert sich auch die Rolle der Eltern stark. Und da dann auch noch die Rolle des Motivators/der Motivatorin einzunehmen, kann zeitweilig recht schwierig sein.
YS: Ja, richtig. Manchmal tritt das Lernen ja auch darum in den Hintergrund, weil die Kinder genau in dieser sensiblen Zeit in die Pubertät kommen. Je nachdem, wie ein Kind auf diese körperlichen und psychischen Veränderungen reagiert, kann es zusätzlich schwierig sein, als Eltern den Kontakt zum Kind zu halten. Wenn dann noch Notendruck von der Schule und Druck von den Eltern kommt, ist die Gefahr einer Negativspirale gross. Weil dann jede schlechte Note als Bestätigung für die aktuelle Überzeugung gesehen wird: «Ich kann’s eh nicht», wird es immer schwieriger, aus dieser Überzeugung wieder rauszufinden. Wir alle sind ja ständig einem Gemurmel von inneren Stimmen ausgesetzt. Das meine ich nicht im pathologischen, krankhaften Sinn. Das ist ganz normal. Das Gemurmel begleitet uns und sagt uns: «Das kannst du», «Das kannst du nicht», «Das ist toll», «Das ist blöd».
Eltern können ihre Kinder in dieser Situation unterstützen, indem sie Positives ausdrücklich benennen und dabei helfen, das Augenmerk darauf zu richten, was gut gelaufen ist.
Und dann gibt es tatsächlich die Situation, dass «der Appetit beim Essen» kommt, dass sich also mit dem Erfolg beim Lernen auch die Motivation einstellt. Also zu sagen, erstmal Motivation angehen, damit der Erfolg kommt – das ist oft zu kurz gegriffen. Manchmal lohnt es sich auch zu versuchen, einfach einmal so gut zu lernen, dass sich bei dieser einen Prüfung Erfolg einstellt. Und es kann sein, dass sich aus diesem Erfolgserlebnis heraus dann die Motivation ergibt und das Kind wieder in die Aufwärts-Spirale findet. Da können Eltern sehr helfen, Mut machen, abfragen – ohne dass sie den Stoff selber beherrschen müssen.
Aber ich denke, man ist als Mutter, als Vater in einem grossen Komplex von vielen verschiedenen Faktoren drin. Und ich glaube, manchmal muss man auch wieder bescheiden sein und zu sich sagen: «Ich bin einfach ein Element unter vielen.»
EG: Haben wir etwas nicht angesprochen, was Dir wichtig ist?
YS: Ja: Die Sache mit der Musik! Man weiss aus der Forschung, dass das aktive Musizieren für das Lernen extrem gut ist. Ein Instrument zu lernen ist eine gute Sache. Man muss sich dafür nicht als besonders musikalisch erachten oder die Perfektion zum Ziel haben. Ein wichtiges Instrument, das wir immer dabeihaben, ist unsere Stimme, sei es beim Singen oder beim Sprechen. Es muss nicht «schön» tönen! Wichtig ist, dass gesungen, die Stimme eingesetzt, durchgeatmet und herzhaft gelacht wird. Das hilft beim Lernen und baut Selbstwert auf. Überhaupt: Gemeinsam als Familie lachen tut gut und bringt die Menschen zusammen.
EG: Vielen Dank, liebe Yvonne, für dieses Gespräch!